Wahlcheck23: “Die Wählerinnen und Wähler verdienen den Wettbewerb der besten Ideen” – Prof. Tina Freyburg im Gespräch.

Die eidgenössischen Wahlen vom Oktober stehen vor der Türe. Eine Chance für die Bevölkerung, ihre Meinung in politische Tatsachen umzumünzen. Aber sind die Wahlen auch eine Chance für die Politik? Wir haben mit Professorin Tina Freyburg über die Erwartungen der Bevölkerung, die Rolle von Kompromissen, zukunftsgerichtete Lösungen und über die Möglichkeiten des Policy Sprints gesprochen.

Professorin Tina Freyburg am Chancentag 2022

Frau Freyburg, die Schweiz befindet sich mitten im nationalen Wahlkampf. Im Wahljahr bleiben viele Dossiers liegen: Sie sind entweder zu heikel, oder es fehlt schlicht die Zeit. Wie wichtig sind diese Wahlen eigentlich für unsere Demokratie?

Freie und kompetitive Parlamentswahlen sind unverzichtbar. Sie sind das zentrale Definitionsmerkmal und ein wichtiger Kontrollmechanismus einer funktionierenden Demokratie. Wahlen sind aber nicht der einzige Kontrollmechanismus: Die Instrumente der direkten Demokratie, wie Volksinitiative oder Referendum, ermöglichen es Bürgerinnen und Bürgern auch in sachpolitischen Entscheidungen direkt mitzubestimmen. Mit der Zauberformel der proportionalen Vertretung aller Bürgerinnen und Bürger im Bundesrat gibt es in der Schweiz nicht den in vielen demokratischen Systemen üblichen Gegensatz zwischen Regierungsmehrheit und Opposition. In den meisten Dossiers müssen Regierung und Parlament versuchen, einen von einer Mehrheit getragenen Kompromiss zu finden. Im Moment haben wir eine spezielle Situation, weil mit den Grünen und den Grünliberalen zwei wählerstarke Parteien nicht im Bundesrat vertreten sind. Damit haben wir eigentlich eine starke Opposition eher wie in klassischen repräsentativen Systemen. In der Schweiz hingegen ist Opposition nicht einfach Sache der Gruppen, die im Parlament sitzen, ohne an der Regierungsverantwortung teilzunehmen, sondern in Letztinstanz des Volkes selbst, und zwar auch in erster Linie in umstrittenen Sachfragen. 

Im Vorfeld der Wahlen hat der StrategieDialog21 eine breite Umfrage in der Bevölkerung durchgeführt, den Wahlcheck. Ihr wolltet wissen, was die Bürgerinnen und Bürger von ihren Politikern und Politikerinnen erwarten. Welches Ziel verfolgt ihr mit dieser Sonderpublikation?

Die Bevölkerung braucht konkrete Vorschläge, um überhaupt eine informierte Wahlentscheidung treffen zu können.

Primäres Ziel des Wahlchecks ist es, den Abgeordneten eine Orientierungshilfe an die Hand zu geben.  Der Wahlcheck ging nicht nur an eine grosse Anzahl an Meinungsführerinnen und Meinungsführer sowie Medienschaffende, sondern wurde zur Eröffnung der letzten Session auch direkt im Parlament verteilt. Die, die jetzt im Parlament sitzen, haben gerade im Wahljahr natürlich ein Interesse daran zu verstehen, welche Themen die Bürgerinnen und Bürger als wichtig erachten. In der Schweiz ist der Anteil an Wechselwählerinnen und -wählern, die sich nicht unbedingt einer Partei verpflichtet fühlen, relativ hoch. Zu verstehen, welche Themen diese potenziellen Wählerinnen und Wähler beschäftigen, kann für den Wahlausgang entscheidend sein.

Was sind die Haupterkenntnisse des Wahlchecks?

Der Wahlcheck zeigt auf, dass die generelle Haltung und Grundstimmung in der Bevölkerung weitaus optimistischer, anpackender und mutiger ist, als es die aktuellen, oft krisenorientierten Nachrichten vermuten lassen. Diese Chancenorientiertheit der Bevölkerung – vor allem bei den Themen Energieversorgung, Digitalisierung, Klimakrise und Arbeitskräftemangel – ist letztlich auch eine Einladung, ja eine Aufforderung an die Politik, tatkräftig voranzugehen und die Wahlversprechen einzulösen. 

Sie sprechen viel von Chancen. Verstehen Sie sich als Gegenpol zum jährlich erscheinenden Sorgenbarometer?

„Gegenpol“ finde ich schwierig. Wir schätzen das Sorgenbarometer und haben die dort genannten Sorgen in die acht Herausforderungen einfliessen lassen, die im Mittelpunkt des Chancenbarometers stehen. Wichtig ist uns aber, nicht bei den Sorgen stehen zu bleiben. Die Frage ist: Was machen wir damit? Diesen nächsten Schritt wollen wir mit dem Wahlcheck und dem Chancenbarometer gehen: Ja, es ist eine Herausforderung, aber wenn wir sie richtig angehen, kann die Welt danach besser aussehen.

Und dafür braucht es dann konkrete politische Arbeit…

Verteilung des Wahlcheck im Parlament

Genau. Es besteht leider die Tendenz im Wahljahr, grosse Themen nur oberflächlich zu streifen, in der Angst, potenzielle Wähler und Wählerinnen zu verlieren. Unsere Ergebnisse zeigen aber, dass konkrete Antworten und Positionen genau das sind, was die Wählerinnen und Wähler erwarten. Die Menschen brauchen konkrete Angebote, um überhaupt eine fundierte Wahlentscheidung treffen zu können. Deshalb sagen wir vom Chancenbarometer den Politikerinnen und Politikern: Positioniert euch. Gebt Antworten. Und gebt Antworten, die differenziert sind, damit die Wählerinnen und Wähler die Unterschiede zwischen den politischen Parteien verstehen und sich entsprechend entscheiden können”.

Aber mit einer klaren Positionierung allein ist die politische Arbeit nicht getan, oder?

Nein, natürlich nicht. Es braucht auch hier einen nächsten Schritt von der Positionierung hin zur politischen Lösung. Und diesen fordert die Bevölkerung auch ein: Zum einen erwartet sie Antworten, zum anderen aber auch, dass die Parteien miteinander um die besten Antworten ringen und in einen produktiven Austausch miteinander treten. Sie sollen Sachkoalitionen bilden und parteiübergreifend zusammenarbeiten. Eine funktionierende Demokratie braucht nicht nur eine breit abgestützte Volksvertretung, sondern auch wirksame, inhaltlich konkrete und umsetzbare Lösungen.

Und das ist das, was ihr mit dem Policy Sprint letztendlich ermöglicht: Ihr bereitet den politischen Akteuren ein sicheres Umfeld, einen Safe Space ausserhalb des Parlaments und ein Stück weit auch ausserhalb der medialen Beobachtung. Ihr bringt die Akteure an einen Tisch, oder besser um ein Whiteboard, damit sie um die besten Lösungsansätze ringen können. Und sie tun dies aus der Perspektive der gesellschaftlichen Gruppen, die sie jeweils überwiegend vertreten.

Eigentlich ist die Schweiz prädestiniert dafür: Der Bundesrat als Kollektivorgan ringt nach innen um Positionen, vertritt diese aber schlussendlich nach aussen gemeinsam. Das müsste doch eine Einladung ans Parlament sein, in den unterschiedlichen Koalitionen gemeinsam, um Lösungen zu ringen und diese dann auch als Team zu präsentieren. Im Wahlcheck äussert eine Mehrheit der Bevölkerung die klare Ansicht, dass dies zu wenig geschehe.

Die Befragten aller Parteien wünschen sich deutlich mehr überparteiliche Kompromisse, als sie aktuell in der Politik sehen.
(Quelle:
Chancenbarometer Sonderpublikation 2023)

Sie haben unsere Policy Sprints angesprochen. Mit diesen bringen wir Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Parteien zusammen, um gemeinsam in kurzer Zeit effektive politische Lösungen zu erarbeiten. Wir setzen dort bewusst auf kollaboratives Innovieren. Die Bevölkerung fordert im Wahlcheck aber einfache “Kompromisse”.  Gibt sie sich also mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden?

Das eine ist aus meiner Sicht der Prozess, das andere das Ergebnis. Ein Kompromiss wird besser, wenn die Zusammenarbeit stimmt. Wenn man sich die Mehrheitsverhältnisse der Schweiz anschaut, gibt es keine Mehrheitspartei mit mehr als 50% der Stimmen. Das heisst, um für eine Mehrheit der Bevölkerung sprechen zu können, braucht man in der Schweiz immer Kollaboration. Wenn wir also von einem Kompromiss sprechen, dann meinen wir eine Lösung, die gesellschaftlich breit akzeptiert werden kann. Also eben keine Antwort, die per Mehrheit durchgesetzt wird, gegen die Minderheiten, sondern die das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit den jeweiligen Argumenten, Bedenken, und Interessen der anderen Seite ist.

In der Schweiz sitzt die Mehrheit also nicht per se am längeren Hebel?

Nein, nicht unbedingt. Das System ist so angelegt, dass es auf Zusammenarbeit hinausläuft und damit oft auch auf einen Kompromiss. In diesem kollaborativen Prozess kann natürlich auch etwas Neues entstehen, das man vorher so gar nicht gesehen hat. Deshalb finde ich den Policy Sprint auch eine super Idee, da er die verschiedenen Akteure zusammenbringt und diese gemeinsam an einem konkreten Produkt arbeiten lässt.

Beim Policy Sprint geht es auch darum, in kurzer Zeit gemeinsam auf eine effektive Lösung zu kommen. Die Trägheit, die ein konsultatives System wie jenes der Schweiz normalerweise mit sich bringt, wird oft bemängelt. Wären Mehrheitsentscheide mit 50 Plus da einfacher und effizienter?

Es ist schwierig zu sagen, was besser ist. In Mehrheitssystemen mit zwei dominierenden Parteien wie in den USA oder Grossbritannien sehen wir, dass sie im Stande sein können, recht schnell auf Veränderungen zu reagieren.. Die Kehrseite zeigt, dass bei ständig wechselnden Mehrheiten Kontinuität verloren gehen kann. Man hat also plötzlich sehr viel Umbruch und das bedeutet immer auch Kosten. Staat, Verwaltung, aber auch Unternehmen und Einzelpersonen müssen sich immer wieder an veränderte Bedingungen anpassen. 

Wenn man, wie im Fall der Schweiz, in der Regel langsamer reagiert, aber dabei versucht, möglichst viele gesellschaftliche Gruppierungen mitzunehmen, erreicht man eine höhere Kontinuität. Letztendlich spiegelt sich das auch in der politischen Stabilität der Schweiz wider, die auch in unserem Chancenbarometer zum Ausdruck kommt. Es sind also zwei Kriterien die unterschiedlich gewichtet werden: Reaktionsgeschwindigkeit vs. Kontinuität.

Und trotz den langwierigen Konsultationsprozessen ist die Schweiz bisher im internationalen Vergleich sehr gut durch etliche Krisen gekommen …

Das spricht auch für ihr System. Die Schweiz ist im Vergleich ein recht kleines europäisches Land. Diese Grösse ist in diesem Fall ein Vorteil, da das Ringen um gesellschaftlich akzeptierte Antworten vereinfacht wird. Einfach gesagt: Man kennt sich. Es gibt eine relative Vertrautheit. Die Kleinheit gibt der Schweiz damit wieder einiges an Agilität zurück. Vielleicht ist das gerade das Geheimrezept: die Kombination aus Vertrautheit und dem generellen Anspruch, alle “mitnehmen" zu wollen.

Wenn Sie nun in den letzten Wochen vor den Wahlen den Politikerinnen und Politikern nochmals einen Zettel aufs Pult legen könnten. Welche Nachricht stünde darauf?

Vielleicht würde sich unsere nächste Botschaft nicht nur an die Parlamentarierinnen und Parlamentarier richten, sondern auch an die Medienschaffenden: Neben mehr Kompromissbereitschaft vermissen die Wählerinnen und Wähler im Wahlcheck vor allem eine positive Kommunikationskultur. Wenn jemand den Mut hat, sich zu positionieren, sich gerade im Wahlkampf mit konkreten Vorschlägen angreifbar zu machen, sollte dies in einem ersten Schritt positiv anerkannt und konstruktiv aufgegriffen werden. Eine der wichtigsten Aufgaben der Medien wäre es, Orientierung zu geben. Dies geht weit über blosse Kritik hinaus, sondern beinhaltet neben dem Faktencheck selbstverständlich auch den Vergleich und die Gegenüberstellung der einzelnen Positionen. Nur so erhält die Stimmbevölkerung einen guten Überblick über die Vielfalt der Meinungen und konstruktiven Vorschläge. Die Schweiz braucht den positiven Wettbewerb um die besten Ideen. Das haben die Bürgerinnen und Bürger verdient.


Tina Freyburg ist seit 2015 Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität St.Gallen und leitet dort die Forschungskommission. Ihr Forschungsprogramm befasst sich mit den wichtigsten Herausforderungen und Chancen für die Demokratie in einer immer stärker vernetzten, digitalen Welt. Sie promovierte an der ETH Zürich und arbeitete zuvor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz sowie an der University of Warwick in Grossbritannien.

Strategiedialog 21 ist eine Stiftung und Dialogfabrik, welche sich für gesellschaftsübergreifende und wirkungsvolle Lösungen in der Schweizer Politik einsetzt. Mit dem Wahlcheck 23 und dem Chancenbarometer fühlen sie den Puls der Bevölkerung mit Fokus auf Chancen und konstruktive Lösungen. Die Ergebnisse des Chancenbarometer werden am 29. September im Rahmen des “Chancentag” der breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Zur Anmeldung für den Chancentag 2023 geht es hier.

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